13.06.2023_Heidi Bayer KORSH

Heidi Bayer (Trompete, Flügelhorn)
Sven Decker (Bassklarinette, Tenorsaxophon)
Kalle Moberg (Akkordeon)
Robert Landfermann (Kontrabass)
Oli Steidle (Schlagzeug)

Das Leben steckt voller Kontraste. Sie zu akzeptieren, erfordert Mut. Unser angeborenes Harmoniebedürfnis aber durch den Filter dieser Kontraste zu schicken und dann aus Gegensätzlichem und auf den ersten Blick Widersprüchlichem etwas in sich Geschlossenes, Stringentes und Ganzheitliches abzuleiten, erfordert eine Meisterhand. Die in Köln lebende Trompeterin Heidi Bayer hat all das … den Mut, die Welt so zu akzeptieren, wie sie ist, statt wie sie sein sollte, und die Gabe, der Logik des scheinbar Unvereinbaren zu folgen, um daraus die Poesie des Kontrasts abzuleiten. Und trotzdem oder gerade deshalb ist sie eine Utopistin, die Dinge zu Gehör bringt, die so noch kein Ohr vernommen hat.

Zunächst einmal fällt die Besetzung mit Heidi Bayer an Trompete und Flügelhorn, Sven Decker an Tenorsaxofon und Bassklarinette, dem Norweger Kalle Moberg am Akkordeon, Bassist Robert Landfermann und Drummer Oli Steidle auf. Aus den Anfangsbuchstaben der Vornamen ergeben sich übrigens Bandname und Albumtitel. Unabhängig von der Tatsache, dass alle fünf Beteiligten auch selbst als Bandleader und Solisten Akzente setzen, stehen doch auch alle für eine ganz eigene Ästhetik, die sich sofort auch auf „KORSH“ offenbart. Gleich der erste Track „Once In A While“ klingt wie ein Schneesturm im Hochsommer. Verschiedene Kräfte wirken zusammen, die man so kaum auf einmal erwarten würde. Das Akkordeon drängt sich mit einer solchen Vehemenz in den Jazz-Kontext aus Trompete, Saxofon, Bass und Schlagzeug, als wollte es allein die Richtung vorgeben. Die Stimmen verhandeln miteinander und finden am Ende eine gemeinsame Richtung. All das ist genau so gewollt. Dieser Track deutet bereits an, was im weiteren Verlauf des Albums passiert, nimmt aber noch nicht alles vorweg. Denn „KORSH“ ist eine Reise, durch Höhen und Niederungen, durch Vertrautes und gänzlich Unbekanntes, durch Klarheit und Mystik, durch Persönliches und Abstraktes, und nicht selten alles zugleich.

Gegensätze ziehen sich bekanntlich an. Die Kontraste sind in den Stimmen und Idiomen der an „KORSH“ Beteiligten bereits angelegt. Heidi Bayer schreibt Musik für Personen, nicht per se für Instrumente. Das Akkordeon lag ihr schon lange am Herzen, aber ebenso lange war sie auf der Suche nach einem Akkordeonisten, der diesen Spielraum zwischen Anmut und Experimentierfreude bereits in seiner Person vereint. Nach umfangreichen Recherchen wurde sie in Norwegen bei Kalle Moberg fündig. Das Füllhorn seiner Klangmöglichkeiten versetzte sie ebenso in Begeisterung wie sein stilistisches Spektrum von Klassik über Jazz bis zu Drones. Sein Akkordeon kann hier wie eine Orgel klingen, da wie eine Bassklarinette und manchmal einfach wie die Urgewalt der Erde selbst. Mit Moberg fuhr sie volles Risiko. „Erst beim Durchhören der Aufnahmen wurde mir klar, dass dies auch voll nach hinten hätte losgehen können“, resümiert die Trompeterin, um sogleich tief zu stapeln. „Es war einfach wahnsinniges Glück, dass das alles so geklappt hat.“

Dass es eben nicht nur Glück ist, sondern eben Heidi Bayers gutes Händchen für Klänge und Stimmen, wie auch ihr Feingefühl für die Klaviatur von individuellen Charakteren, zeigt die Auswahl der übrigen Musiker. Mit Sven Decker verbindet sie eine lange Freundschaft, die schon in unterschiedlichen Projekten und Bands zum Tragen kam. Besonders schätzt sie an dem Ausnahmesaxofonisten dessen Fähigkeit, bedingungslos loszulassen. Mit Decker gemeinsam dachte sie über eine passende Rhythmusgruppe nach. Der Berliner Drummer Oliver Steidle bringt eine Paarung von Ausdruckskraft und Verspieltheit mit, die präzise in Heidi Bayers Konzept passte. Vor allem bringt auch er die erforderliche Risikobereitschaft mit. Steidle wiederum schlug Robert Landfermann als Bassisten vor, den die Bandleaderin ohnehin schon im Fokus hatte. Landfermann ist ein extrem empathischer Individualist, der das nun komplette Quintett ausbalancierte.

Und natürlich ist da auch noch Heidi Bayers eigene Stimme. Die Vielfalt ihrer spielerischen Facetten und Verkleidungen ist beeindruckend. In jedem Song nimmt sie eine andere Rolle ein. Mal tritt sie uns sehr warm und verbindlich gegenüber, mal sehr unterkühlt und spitz, und mit Brillanz und Sujetsicherheit beherrscht sie das ganze Repertoire dazwischen. „Das passiert gar nicht bewusst, aber ich wollte eine Situation schaffen, in der ich mich selbst aus meiner Komfortzone entfernen muss. Ich wollte mir einfach mal erlauben, auch all die Seiten in mir hörbar zu machen, die sonst nicht so typisch für mich sind, aber trotzdem einen Teil von mir ausmachen.“

Heidi Bayer sucht nicht nach der größtmöglichen Schnittmenge zwischen den Mitgliedern ihrer Crew, sondern arbeitet Gegensätze heraus und macht Überlappungen hörbar. Ein Widerspruch ist nur dann ein Widerspruch, wenn er als Abweichung vom Einklang der Gegebenheiten wahrgenommen wird. Heidi Bayer geht von ihren eigenen Voraussetzungen aus und schafft auf deren Grundlage ein lebensnahes Ausnahmealbum. „KORSH“ beschreibt einen asynchronen Prozess individuellen und kollektiven Zusammenrückens und Auseinanderdriftens, bei dem neben spielerischen Freiräumen vor allem die multiplen Charaktere der fünf Musikerpersönlichkeiten zur Geltung kommen. Das ausgefeilte Changieren von Persönlichkeiten in einem klar vorgegebenen Rahmen hat man so noch nicht gehört.

“Eine Reise, durch Höhen und Niederungen, durch Vertrautes und gänzlich Unbekanntes, durch Klarheit und Mystik, und nicht selten alles zugleich. Heidi Bayers Vielfalt ihrer spielerischen Facetten und Verkleidungen ist beeindruckend.”

— Wolf Kampmann

Foto © Stefan Braunbarth

www.heidi-bayer.de

Fotos © Robert Fischer